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Expertin im Radio-Paradiso-Studio ist Anja Arnoldt, sie leitet das Immanuel Haus am Kalksee in Rüdersdorf. Dort finden pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren vollstationäre Pflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Tagespflege und die ambulante Pflege in der Immanuel Diakonie Sozialstation.

Als besonderes, und von den Gästen sehr geschätztes Angebot werden auch Reisen für die hochbetagten Menschen angeboten. Da geht es beispielsweise an die Müritz oder an die Ostsee.

Was es an Planung braucht, um mit 75 bis 100 Jahre alten pflegebedürftigen Menschen zu reisen, wie viele Mitarbeitende dabei sind und warum es sich – trotz aller Mühe – so sehr lohnt, davon berichtet Anja Arnoldt im Gespräch mit "Natürlich gesund"-Moderatorin Julia Nogli.

Wenn Hochbetagte auf Reisen gehen

Annja Arnoldt leitet das Immanuel Haus am Kalksee in Rüdersdorf und berichtet in der Sendung „Natürlich gesund“, was es an Planung braucht, um mit 75 bis 100 Jahre alten pflegebedürftigen Menschen zu reisen, wie viele Mitarbeitende dabei sind und warum es sich – trotz aller Mühe – so sehr lohnt.

 Julia Nogli
Schönen Dienstagabend, wie immer mit der Sendung Natürlich gesund hier auf Radio Paradiso. Mein Name ist Julia Nogli und das Thema heißt heute Immer mehr als üblich Hochbetagte auf Reisen. Expertin und Gast hier im Studio ist Anja Arnoldt.

Sie leitet das Immanuel Haus am Kalksee in Rüdersdorf. Schönen Abend. Hallo.

Anja Arnoldt
Hallo.

Julia Nogli
Ja, was ist denn das Haus am Kalksee?

Anja Arnoldt
Das Haus am Kalksee liegt in Rüdersdorf direkt am Kalksee, ist eine Senioreneinrichtung und hat mehrere Bereiche. Wir haben einen ambulanten Pflegedienst mit einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, eine Tagespflege mit 15 Plätzen und eine vollstationäre Einrichtung mit 105 Bewohnerinnen und Bewohnern. Im Haus arbeiten um die 120 Mitarbeiter in Vollzeit und Teilzeit.

Julia Nogli
Pflegekräfte, Servicekräfte, Kurzfront. Ja, also das ist sozusagen, wenn man so will, das Übliche. Aber wir reden heute über Reisen.

Wie ist denn die Idee entstanden, Reisen mit alten Menschen durchzuführen?

Anja Arnoldt
Alles, was die Pflege tut, ist biografiegeleitet. Wir machen Tagesausflüge. Wir gehen mit denen mal ins Kino.

Haben wir mal jemanden, der besondere Arbeit hatte, dann versuchen wir da nochmal irgendwie nachzuspüren und da vielleicht auch mal hinzufahren. Und irgendwann entstand die Idee, ja, wir können nochmal verreisen. Es gibt ja behindertengerechte Einrichtungen, Hotels, Begegnungsstätten.

Und vor 13 Jahren kamen Hausäcktern in Waren mit in die Emanuel miteinander leben. Und dann haben wir gedacht, probieren wir das.

Julia Nogli
Weil die Menschen ja auch früher mal verreist sind. Das ist dieses Abholen in dem, was in meinem Leben mal schön war. Genau, ja.

Und wohin gehen solche Reisen?

Anja Arnoldt
Also Kriterium ist nicht zu weit weg, weil Polarpausen unterwegs sind, die dauern dann mindestens zwei Stunden. Ach, weil alle müssen, alle raus, alle rin und wie die Schildkröten mit Rollator und Rollstuhl denn wohin und zurück. Also die Reise soll nicht trapeziös sein.

Und immer dahin, wo es bunt ist, ein bunter Ort, wo viel zu erleben ist und wo Kultur ist, wo die Landschaft noch schön ist. Und so haben wir unseren Radius auch dahin gezogen, wo die Leute sagen, ja, das kennen wir noch von früher. Wir waren an die Müritz, wir waren in Binz.

Dieses Jahr fahren wir nach Warnemünde und nicht einfach so nach Warnemünde, sondern ins Hotel Neptun, weil eine Frau hat gesagt, 1971 war sie das letzte Mal im Hotel Neptun. Das ist bekannt, mit dem Dreizack. Genau, also haben wir uns dann da an die Verwaltung gewandt und die haben uns ein Short-Gruppen-Angebot gegeben und da juckeln wir dann alle im Dezember hin.

Und inzwischen machen wir auch zwei Reisen. Also die Reisen, die kann ich immer nur machen, wenn ich genug Mitarbeiter habe, die sagen, gut, sie machen mit. Wie viel nehmen da teil und wie viel brauchen Sie sozusagen als Mitarbeiter?

Also grundsätzlich nehmen all die teil, die von der Reise was haben und dann auch nicht schmerzbelastet da irgendwie antreten müssen. Wir sind immer so zwischen 35 und 45. Bewohner, Tagesgäste, ambulante Patienten und um die zehn Mitarbeiter.

Also wenn wir neun Rollstühle haben, müssen mal zehn Mitarbeiter sein. Neune schieben, einer muss nach dem Weg kicken.

Julia Nogli
Ja, genau, ja. Was sind denn die besonderen Herausforderungen?

Anja Arnoldt
Herausforderung ist die Gegebenheit vor Ort. Herausforderung sind die Zahl der Mitarbeiterschaft zusammen zu haben, die dann auch mitkommen, die das auch leisten können, Tag und Nacht dabei zu sein. Also wer will, der kann nicht unbedingt, weil vielleicht ein kleines Kind zu Hause ist oder der Hund, der nicht untergebracht werden kann.

Und wenn wir verreisen, ist es immer wie ein Umzug. Also vom Toilettenstuhl bis zu Inkontinenzunterlagen, Notfallkoffer, Notfallmedizin. Ja, und die Ausflüge sind auch wie Wandertag.

Ena hat immer noch mal Wechselwäsche für irgendwen mit.

Julia Nogli
Ja, okay. Also da muss an ganz vieles gedacht werden.

Anja Arnoldt
An alles.

Julia Nogli
Wie lange machen Sie das schon jetzt? Jetzt 13 Jahre. Oh, schon 13 Jahre.

Das heißt, da haben Sie schon einiges wahrscheinlich, was Sie bei der ersten und zweiten noch vollkommen falsch gemacht haben, dazugelernt und haben Ihre Checklisten wahrscheinlich, was alles wichtig ist. Ja, jetzt wollen wir mal gleich zum Positiven kommen. Wie profitieren die Menschen davon?

Anja Arnoldt
Also erst mal ist es eine totale Vorfreude. Wir fahren im Juni und jetzt geht es schon wieder los, dass die alle total reiselustig und rustig sind und freuen sich und sind nicht dankbar. Die sind einfach so, dass sie sagen, wir sind endlich wieder frei.

Diese Freiheit zu haben, in Geschäfte zu gehen, selber zu entscheiden. Also diese Selbstbestimmung ist ja dann noch mal auf einer Reise eine ganz andere. Und das ist das Ausschlaggebende.

Und diese Freude, diese Vorfreude und die Freude dabei ist auch noch mal ganz bezeichnend. Also wir haben immer einen Tanzabend und der Tanzabend ist immer so. Komm, gibst die erste rhythmische Musik.

Da ist das Parkett voll und da sind auch die Rollstuhlfahrer drauf.

Julia Nogli
Das ist ja wirklich großartig. Also man kann sagen, die Bewohner leben da richtig auf. Und sie haben vielleicht auch Fähigkeiten, wo sie gar nicht mehr dachten, dass sie die haben.

Anja Arnoldt
Also die demenzerkrankte Frau, die wirklich schon nicht mehr spricht, die sagt plötzlich schön oder die tanzt noch mal mit ihrem Partner. Wir nehmen ganz oft ja auch die Ehepartner oder die Partner mit, wenn die möchten. Und wir helfen der alten Frau aus diesem Rollstuhl zu zweit und die liegt bei denen im Arm und die tanzt.

Die bewegt plötzlich wieder ihre Meine. Das ist so. Oder erkennen, wenn wir haben Kultur vor Ort beim Klassikkonzert, erkennen die irgendwas und plötzlich dirigiert sie mit.

Julia Nogli
Das ist ja wirklich großartig. Also hätten sie es nicht schon erfunden, hätte man es erfinden sollen. Aber wie wird das überhaupt finanziert?

Anja Arnoldt
Ja, das ist so gesehen ein Problem. Also finanziert wird es privat beziehungsweise gibt ja noch den Entlastungsbeitrag, den man für Begleitdienste nehmen kann davon. Aber wer es nicht finanzieren kann.

Wir sind eine Diakonie und ich habe einen ganz schonen Geschäftsführer. Da wird dann anders verhandelt. Ja, aber eine Zuzahlung ist bei oder eine Ratenzahlung.

Und wir sind ja auch kein Reiseunternehmen. Also wer ausfällt und am Abfahrtstag sagt, geht ihm nicht gut. Na, dann ist es so.

Der muss da auch nicht irgendwie Stornogebühr oder sonst was bezahlen.

Julia Nogli
Das ist dann hier nullt. Genau. Ja, aber es ist ja immerhin auch eine Reise.

Das ist ganz wirklich großartig. Gibt es manchmal auch Verschlechterungen von medizinischen Zuständen zum Beispiel, wo sie dann auch eine Art Betreuung? Was machen Sie dann?

Anja Arnoldt
Also wenn es eine Verschlechterung gibt, ist es meistens ein Notfall. Also Notfall haben wir auch immer mal. Es ist ja auch so, dass die Pflegekräfte nicht abends um null Uhr ins Bett gehen, sondern die machen ja auch noch die Nachtrundgänge.

Wenn ein Notfall ist, dann haben wir auch den Notdienst und entweder ein Notfall kriegen wir alleine hin oder Krankenhaus.

Julia Nogli
Genau, das ist völlig normal. Wie ist denn die Altersspanne so? Von 75 bis 100.

Und manche waren jetzt auch schon mehrfach mit.

Anja Arnoldt
Also so lange wie es geht.

Julia Nogli
Also wir haben die, die nach der Reise ist, vor der Reise. Ja, haben Sie. Gibt es auch welche, die echt Angst haben, sich das nicht zutrauen, die so ein bisschen dann überreden müssen?

Anja Arnoldt
Ja, das heißt, wenn wir reden, dann können wir gegen die Wand drehen. Aber wenn die anderen reden, wenn die Tagesgäste untereinander und was du da verpasst hast und was wir da gemacht haben, ja, dann sind sie doch ganz aufgewühlt und dann probieren sie es. Oder wir haben auch Leute, die sagen, mit den Alten wollen sie nie fahren.

Und dann fahren sie eh mal mit. Und plötzlich sind da Freundschaften entstanden, auch bei den ambulanten Patienten, dass die sich zu Hause dann auch treffen. Also auch Nachgang nochmal gegen Isolation und Einsamkeit.

Haben Sie schon auch einen Preis dafür bekommen eigentlich? Nee, aber der Preis ist wirklich die heiteren Leute. Und die macht ja auch was mit der Mitarbeiterschaft, die fährt.

Das ist sowohl Feiern, aber eben auch die Pflege komplett. Ja, und das Kennenlernen nochmal anders, auf einer anderen Ebene untereinander.

Julia Nogli
Aber dennoch muss ja der normale Betrieb auch weitergehen. Wie kriegen Sie das denn hin?

Anja Arnoldt
Naja, wir sind im Haus am Kalksee wunderbarerweise mit der Personalausstattung super. Wir sind so eins drüber. Wir haben keine Not, möchten auch nicht.

Julia Nogli
Was sind nochmal so ganz besondere Erfahrungen, die Sie gemacht haben, wo Sie selber gestaunt haben?

Anja Arnoldt
Die Veränderung der Menschen mit ihrer Offenheit, mit ihrer Mobilität, mit beispielsweise nachts durchschlafen, wo die sonst abends immer die Schlaftablette kriegen oder nachts nicht mehr zum WC müssen, weil sie einfach so fertig sind vorm Tag. Ja, und auch das Wiedererkennen oder ganz einfache Ereignisse. Wir laufen in Binz lang und eine Frau sagt zu mir, ach, man, ich zieh mich so gerne mit mir zu Rossmann.

Also tappern wir da rein und sie sagt, weißt du Anja, wie lange ich nicht in so einer Einrichtung hier war und hat gekauft und hat sich selber ausgesucht. Da kommt immer die Tochter und bringt die schönsten Kosmetikartikel und plötzlich kann sie das alleine machen.

Julia Nogli
Ja, genau. Ja, selbst sowas kann eine totale Freude sein, selbstbestimmtes Leben halt.

Anja Arnoldt
Unbedingt, ja.

Julia Nogli
Oder eben auch am Wasser zu sein, wenn an der Müritz oder an der Ostsee.

Anja Arnoldt
Oder an der Müritz, dass wir die Leute wirklich auch mit Rollstühlen ins Wasser schieben oder wenigstens die Beine freimachen, wer nicht will. Und andere Orte sind zum Beispiel Rheinsberg. Rheinsberg hat so ein ganz schönes, interessantes behindertengerechtes Hotel von der Donnersmarck Stiftung.

Die haben so eine warme Schwimmhalle und die haben auch sämtliche Rätschaften und Hubvorrichtungen, dass wir die Leute ins Wasser lassen und Wehpflegekräfte begleiten. Und plötzlich ist da der Mann, der seit 40 Jahren nie wieder im Wasser war, in der Schwimmhalle und total glücklich.

Julia Nogli
Also dieses Glück der Menschen, das stärkt uns. Richtig Gänsehaut. Also das klingt wirklich fantastisch.

Kann ich sehr gut nachvollziehen, mir sehr gut vorstellen. Sie sagten vorhin schon, Demenz ist natürlich ein großes Thema, kann aber auch schwierig sein, oder? Wenn jemand dann irgendwie, das ist ja auch mal so, mal so manchmal.

Wie gehen Sie damit dann um? Ja, wenn jemand zum Beispiel gar nicht mehr weiß, wo bin ich jetzt?

Anja Arnoldt
Genau, genau. Und so eine Stadien gibt es ja dann da durchaus auch. Oder im Heim ist noch alles gut, da funktioniert es und ist orientiert.

Und plötzlich ein anderer Ort. Natürlich, da ist es dann richtig problematisch. Also eigentlich, wir zählen unsere Gruppe mal durch.

Wir zählen durch wie Kinderjagd. Ja, genau. Das ist wichtig.

Und wenn wir wirklich dann jemanden haben, der so ortsorientiert, desorientiert ist, der begleiten wir bis bis dahin, dass einer mit in diesem Appartement schläft.

Julia Nogli
Okay.

Anja Arnoldt
Beim letzten, dass ich dann das eine Zimmer nahm und der Bewohner das andere Zimmer, damit er mir nicht abhanden kommt. Genau.

Julia Nogli
Und die Kontinuität ist, sind Sie ja als Person.

Anja Arnoldt
Ja, ja, ja. Und wenn er weiß, ich bin jetzt da, dann ist auch für ihn gut.

Julia Nogli
Genau.

Anja Arnoldt
Aber das durchzählen, immer wieder zählen, ob alle da sind.

Julia Nogli
Ja.

Anja Arnoldt
Also nächste Reise ist im Juni. Wo geht's hin? Nach Waren/Müritz und im Dezember nach Warnemünde.

Ach, das ist alles schon geplant?

Julia Nogli
Ja, muss man.

Anja Arnoldt
Sonst ist es ja keine Chance. Sonst kriegen wir unseren Lieblingsbusunternehmer nicht. Da haben wir nämlich auch so einen Speziellen.

Der ist so ganz ruhig und freundlich mit uns. Und wir wissen also, erst wird alles ausgelegt mit In-Continence-Material. Denn die Leute rennen hier rum und der hat Zeit mit uns.

Julia Nogli
Das ist ganz wichtig. Und auch bei den Hotels, sagen Sie, Sie treffen da ja schon auf Leute, die Erfahrungen mit all dem haben und es geht eben ganz viel.

Anja Arnoldt
Ja, genau.

Julia Nogli
Dann ganz lieben Dank an Anja Arnold, die Leiterin des Immanuel Hauses am Kalksee in Rüdersdorf, eine Einrichtung der Immanuel Albertinen Diakonie. Immer mehr als üblich hochbetagte auf Reisen, so unser Thema heute.

Mehr Infos dazu und die ganze Sendung zum Nachhören hier auf www.paradiso.de in der Mediathek unter natürlich gesund. Einen wundervollen Abend für Sie mit Radio Paradiso.